Viele Forstleute erhoffen sich von der Rückkehr des Wolfes eine Reduzierung des Wildstandes. Doch die Erwartungen dürften zu hoch angesetzt sein.
Ein häufiges Argument der Jägerschaft lautet, dass die Jagd notwendig ist, um die in Mitteleuropa fehlenden Großräuber zu ersetzen und die Wildbestände zu regulieren. Ein tüchtiger Weidmann ist durchaus in der Lage mit seiner Büchse einen Wildbestand zu kontrollieren, die meisten Raubtiere können das allerdings nicht. Aber auch viele Naturschützer – und auch mancher vom Wildverbiss geplagter Forstmann – setzen ihre Hoffnung etwa in die Rückkehr des Wolfes.
Die weit verbreitete These der Räuber-Beute-Beziehung trifft häufig nicht zu, denn die Natur ist wesentlich komplexer. Es gibt einige gewichtige Gründe, warum die Theorie der Räuber-Beute-Beziehung oft nur eine Theorie bleibt.
Räuber sind faul
Raubtiere sind Opportunisten. Ein Raubtier verlangt es nach Futter, aber nicht danach sich bei der Jagd zu beweisen. Daher wird immer die Beute geschlagen, die am einfachsten zu erlegen ist. Selbst wenn die Beute Müll ist: Eisbären, Braunbären und Füchse nutzen diese Futterquelle sehr gerne. In der Räuber-Beute-Beziehung wird davon ausgegangen, dass Räuber A wie etwa der Fuchs, Beute B wie den Feldhasen, frisst und deshalb den Bestand der Feldhasen reguliert. So weit, so falsch. Oder zumindest nicht gänzlich richtig. Denn im Lebensraum von Fuchs und Hase kommen noch andere Arten vor. Und auch andere Gefahren. Während der Fuchs auch andere Beute schlägt als nur Feldhasen, hat der Feldhase auch andere Fressfeinde als nur den Fuchs zu fürchten – auch wenn dieser am häufigsten vorkommt. Selbst wenn der Feldhase äußerst geschickt ist und allen Fressfeinden entkommt, gibt es eine ganze Reihe anderer Gefahren wie Nahrungsmangel, Krankheiten und den Straßenverkehr.
Viele potenzielle Beutearten sind sogenannte r-Strategen. Das bedeutet, dass sie häufig Nachwuchs haben und das in relativ großer Zahl, zudem ist der Nachwuchs rasch in der Lage, sich selbst fortzupflanzen. Viele Insektenarten sind r-Strategen, aber auch Mäuse, Kaninchen und Rehe zählen dazu. Die meisten Räuber hingegen sind K-Strategen: Sie bekommen seltener Nachwuchs, dieser entwickelt sich langsamer und pflanzt sich erst nach einigen Jahren fort. Bei Raubtieren kommt noch der Umstand hinzu, dass die Jungtiere erst lernen müssen wie Beute erfolgreich geschlagen wird. Aus diesen Gründen können Raubtiere ihre Beute besonders bei Massenvermehrungen nicht regulieren: Die Beutetiere vermehren sich rascher und häufiger.
Beute beeinflusst Räuber…
Nach der Theorie der Räuber-Beute-Beziehung reguliert das Raubtier die Beute. Doch wer reguliert den Räuber? In der Ökologie gibt es den Begriff des Spitzenprädators. Das sind Arten, die an der Spitze der Nahrungspyramide stehen, und auf die zwei Eigenschaften zutreffen: Sie haben in ihrem natürlichen Lebensraum keine natürlichen Feinde, und sie besiedeln diesen Lebensraum meist in nur sehr geringer Dichte. In Europa sind das Wolf, Braunbär, Steinadler und Uhu. Aber warum wimmelt es in der Luft nicht vor Adlern, wenn sie keine Feinde zu fürchten haben? Weil die Populationsentwicklung von anderen Faktoren als dem Vorhandensein von Fressfeinden abhängt: das Nahrungsangebot, die Anwesenheit von Krankheiten, die Größe des verfügbaren Lebensraums und die Witterung sind ausschlaggebend. Dies trifft aber nicht nur auf Raubtiere zu. Es gibt auch Pflanzenfresser, die als erwachsenes Tier keine Fressfeinde haben: Kein Raubtier legt sich freiwillig mit Elefant, Nashorn oder Nilpferd an. Trotzdem waren Nashörner, auch bevor die Populationen durch die (häufig illegale) Jagd stark dezimiert wurden, nur selten in afrikanischen Savannen zu beobachten. Große Tiere wie Nashörner benötigen große Reviere, um ihren Futterbedarf zu stillen, das Revier eines Spitzmaulnashorns beträgt bis zu 40.000 ha. Zudem vermehren sich Nashörner sehr langsam: Eine Kuh kann erst im Alter von acht Jahren trächtig werden, und dass nur alle zwei Jahre. Die Tragezeit dauert 15 Monate, und das Kalb wird zwei Jahre lang geführt. Mit solchen Fortpflanzungsraten neigt keine Art zur Massenvermehrung.
Wie schon erwähnt, sind Räuber Opportunisten. Nur wenn wenig potenzielle Nahrung vorhanden ist, greifen Räuber auch gesunde und kräftige Beutetiere an. Ein krankes oder altes Tier ist nicht nur leichter zu erlegen, das Risiko sich zu verletzen sinkt für den Räuber ebenfalls. Wenn sich aber Räuber vor allem auf die schwachen und alten Mitglieder einer Population konzentrieren, dann wird der Bestand aus zwei Gründen nicht reguliert: Zum einen werden der Population Individuen entnommen, die ohnehin durch Alter oder Krankheit bald gestorben wären. Außerdem pflanzen sich alte und kranke Exemplare nicht mehr fort.
Raubtiere töten, um zu fressen. Sind Bär und Luchs satt, dann gibt es nur wenig Interesse an potenziellen Beutetieren. Bei einer Massenvermehrung von Mäusen schlägt der Fuchs so viele Mäuse, wie er für sich selbst und seinen Nachwuchs benötigt. Ob der Mausbestand weiter zunimmt, ist für den Fuchs aber nicht von Interesse: Er will nur fressen und nicht den Bestand kontrollieren. Getötet werden nur Tiere, die auch verzehrt werden. Nur in Ställen verhält sich der Fuchs anders: Die Hühner, die nicht fliehen können, lösen im Fuchs einen Jagdreflex aus, weshalb er dann alle Tiere tötet.
Nur in Sonderfällen reguliert der Räuber
Die Bedeutung der Räuber-Beute-Beziehung ist also häufig gering. Räuber können einen Einfluss auf ihre Beute haben. Dies trifft aber vor allem auf isolierte Lebensräume wie Inseln zu, und auch nur dann, wenn die Population der Beutetiere klein ist. Wächst die Population, wird der Einfluss der Räuber immer geringer. Viel wichtiger für die Entwicklung von Hirsch, Reh und Wildschwein sind die Verfügbarkeit von Nahrung, die Witterung (vor allem während der ersten Lebenswochen der Jungtiere) und die Abwesenheit von Krankheiten.
Keine Großraubtiere: Wachsen die Schalenwildbestände?
Ein weiteres Argument warum nicht die Räuber die Bestandeszunahme des Schalenwilds regulieren können ist statistisch einfach beweisbar. Der letzte Wolf wurde in Westdeutschland 1770, der letzte Luchs um 1850 und der letzte Bär ebenfalls im 19. Jahrhundert erlegt. Man kann aber davon ausgehen, dass schon vor ihrer endgültigen Ausrottung die Bestände der Großräuber sehr klein waren und die wenigen Wölfe, Bären und Luchse kaum einen Einfluss auf Reh und Rothirsch haben konnten. Das zeigen auch die Bestandeszahlen der Schalenwildpopulationen: Obwohl die wichtigsten Freßfeinde ausgerottet waren, vermehrten sich Hirsch und Reh nicht enorm, die Bestände verblieben über Jahrzehnte auf stabilem Niveau. Erst ab den 1950er Jahren, mit dem Beginn der industrialisierten Landwirtschaft und einer damit verbundenen verbesserten Nahrungsbasis begannen die Bestände zu wachsen. Wenn nun aber die Ursache für die Bestandeszunahme nicht die Absenz der Freßfeinde sondern die Nahrungsmenge waren, so kann die Rückkehr der Freßfeinde allerhöchstens auf lokaler Ebene einen Einfluss haben. Insbesondere unter der Tatsache, dass die drei Großraubtierarten Bär, Luchs und Wolf nur äußerst spärlich wieder einwandern: so gibt es beim Luchs nur ganz wenige etablierte Populationen und der Braunbär ist in Österreich mittlerweile sogar zum zweiten Mal ausgestorben.
Soll der anthropogen beeinflusste Wildbestand reduziert werden, kann die Lösung auch nur vom Menschen selbst ausgehen: durch eine konsequente Jagd, die modernes Wildmanagement betreibt wo sich die Abschusszahlen am Wildschaden orientieren und nicht an Trophäen.